Ela Angerer

Natürlich ist es purer Egoismus. Man macht es in erster Linie ja für sich, nicht für die anderen. Die Reihenfolge geht ungefähr so: Man braucht dringend Sinn. Man engagiert sich. Irgendwann wirkt es — aber nicht so, wie geplant.

 

Alles begann damit, dass unser Sohn von zu Hause auszog. Mit siebzehn hatte mein kleines Kind seine Koffer, sein Bett und seinen Schreibtisch auf einen Laster gepackt und drei Bezirke weiter ein neues Leben begonnen. Mit siebzehn! In den langen anstrengenden Jahren seiner Pubertät hatte ich mir das anders vorgestellt: An seinem zwanzigsten Geburtstag, spätestens an seinem einundzwanzigsten, würden sein Vater und ich ihn zur Seite nehmen und ihm erklären, dass es langsam an der Zeit wäre, loszuziehen. Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. In wohligen Tagträumen malte ich mir unser zukünftiges Glück in einer plötzlich so viel größeren, ruhigeren und aufgeräumteren Wohnung aus. Jetzt war er uns zuvorgekommen. Er hatte uns verlassen, einfach so.

Selbstgebackene Dinkelkuchen hatte es bei mir nie gegeben. Ich hatte auch nie Lust gehabt, hinter Playmobilrittern durchs Wohnzimmer zu robben. Im Gegensatz zu modernen Helikopter- und Bobo-Müttern würde ich bestimmt keinen Preis als Super-Mami gewinnen. Trotzdem traf mich dieser frühe Aufbruch wie ein vom Himmel gestürzter Meteorit: Starr vor Schreck stand ich in einem leergeräumten Jugendzimmer. In der Ecke, zwischen einem Staubhaufen und einem leeren Pizzakarton, lag das Fotoalbum mit Bildern von diversen Urlauben und Kindergeburtstagen, das ich für meinen Sohn gebastelt hatte. Er hatte es nicht mitgenommen. In seinem neuen Leben war kein Platz für Sentimentalitäten dieser Art.

 

In den folgenden Wochen wurde ich dünnhäutig. Ich fing wieder zu rauchen an. Kurz darauf schlief ich mit einer brennenden Zigarette auf dem Sofa ein und fackelte beinahe unsere Wohnung ab. Zu allem Überfluss näherte sich auch noch mein vierzigster Geburtstag.

Eines Abends musste ich für die Firma, für die ich damals arbeitete, wichtige Kunden ins Konzerthaus ausführen. Auf dem Programm stand ein Soloabend der kanadischen Schmusejazzsängerin Diana Krall. Als sie mit ihrem starken kanadischen Akzent zu Besame Mucho ansetzte, was bei ihr eher wie Bejsaimi Muuuhscho klang, fing ich zu schluchzen an. Ich kannte mich selbst nicht mehr: Ich saß in Loge zwei und heulte — zu Diana Krall!

So konnte es nicht weitergehen.


Es musste mehr im Leben geben. Am nächsten Morgen ging ich ins Büro und fing zu googeln an. Ich beschloss, Sozialarbeiterin zu werden. Menschen helfen, das würde mich erfüllen und meinem Dasein einen neuen Sinn geben. Schnell stellte sich heraus, dass ich dafür noch einmal die Schulbank drücken müsste. Vollzeit, drei Jahre lang. Es überforderte mich, soweit vorauszuplanen.

 Auf dem Heimweg entdeckte ich an einer Hausmauer einen kleinen Schaukasten. Der Holzrahmen war bereits völlig verwittert. Hinter der trüben Glasscheibe hing ein kopierter Zettel mit der Headline: Wollen sie so leben? Darunter war das Foto eines Kellers mit riesigen Schimmelflecken an den Wänden zu sehen. Auf dem nackten Betonboden lag eine Matratze, darauf saßen eine Frau und drei kleine Kinder. Es ging um einen Spendenaufruf für obdachlose Mütter. Der ganze Aushang war so unglamourös, so uneitel, er rührte mich. Hier gab es keine gelifteten Promis, die sich unter dem Vorwand einer guten Sache medienwirksam ins Bild rückten.

Ich informierte mich über den Verein, der für den Schaukasten zuständig war und bewarb mich als ehrenamtliche Mitarbeiterin. Eine Woche später begann ich mich mit vollem Elan in meine neue Aufgabe zu werfen: Ich sammelte Geld, ich organisierte Kleidung und Spielsachen. Ich überzeugte Immobilientreuhänder, uns Wohnungen für notleidende Mütter und ihre Kinder zur Verfügung zu stellen. Regelmäßig schrieb ich Zeitungsartikel, um auf die Anliegen des Vereines und Spendenmöglichkeiten aufmerksam zu machen.

Meinem Mann erzählte ich von meinen Aktivitäten nur am Rande. Ich kam ja auch gar nicht mehr dazu, so sehr ging ich in meinem neuen Nebenjob auf. Während er sich von nun an allein um unseren Haushalt kümmerte, nahm ich an Versammlungen teil — aufgrund meines Engagements war ich inzwischen zum Vorstandsmitglied des Vereines aufgestiegen.

In meiner Freizeit besuchte ich Mütter, die zuvor auf der Straße gestanden waren, in ihren Unterkünften. In meinem Fall ein learning by doing: Ich lernte — das alles spielte sich lange vor der großen Flüchtlingskrise ab — dass die meisten dieser Frauen nicht mit dem Bus oder mit dem Zug nach Österreich gekommen waren, sondern mit ihren Babys und Kleinkindern wochenlang zu Fuß über die Berge nach Österreich geflüchtet waren. Ich wurde daran erinnert, dass es in Wien Wohnungen gibt, in denen sich aufgrund von Geldmangel so gut wie keine Möbel, kaum Geschirr, keine Kerzen, Bilder, Blumen, Bücher und schon gar keine Spielsachen finden. Ich lernte, wie einsam sich viele Menschen aus anderen Kulturkreisen bei uns fühlen. Weil bei uns niemand Zeit hat, sich mit fremden Leuten zu Gesprächen und Tee zusammenzusetzen. Ich übrigens auch nicht: Einmal nahm mich eine ältere Tschetschenin zur Seite und gestand mir in spärlichem Deutsch, wie unglücklich sie sei. Dann fing sie an meiner Schulter zu weinen an. Ich war überfordert. Zum ersten Mal verstand ich, warum es Sinn macht, für helfende Berufe eine mehrjährige Ausbildung zu machen.


Leider konnte mein neues ehrenamtliches Dasein die Lücke, die mein flügge gewordener Sohn in meinem Leben hinterlassen hatte, nicht füllen. In meinem Schmerz war mir nichts zu peinlich: Anstatt mich wohlwollend für seine neue Selbstständigkeit zu interessieren, warf ich ihm bei der erstbesten Gelegenheit an den Kopf: „Mir geht es übrigens gar nicht gut.”

Irgendein besonders störrischer Anteil in mir hoffte wohl, ihn dazu zu bringen, wieder bei uns einzuziehen. Aber Kinder haben es nicht so gerne, wenn sich die eigene Mutter benimmt, als wäre sie das Opfer einer ungerechtfertigten Beinamputation. Wenig überraschend wollte mich mein Kind von nun an noch seltener sehen.

Zu allem Überfluss hatte mein Mann (wir sahen uns ja kaum mehr) auf meinen Geburtstag vergessen. Nicht so meine Kollegen in der Firma: Nachdem sie mit Torte und Blumen aufgefahren waren, kam mein damaliger Chef auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Na ja, vierzig. Aber du machst es eh ganz gut.”

 

Irgendeine dunkle Macht hatte mich auf den Parkour der Demütigungen gezwungen. Ich hatte vor, dagegen zu halten. Sofort kam mir die rettende Idee: Meine 95-jährige Großmutter, altersschwach und blind, lebte seit kurzem im Altersheim. Ich beschloss, mich zusätzlich zu meinen bisherigen Engagements einmal in der Woche um sie zu kümmern. Der Sonntag, mittlerweile der letzte freie Tag in meiner Woche, wurde mein Oma-Besuchstag.

Ich brauchte eineinhalb Stunden mit U-Bahn und Bus hin und eineinhalb Stunden zurück. Dazwischen gingen wir spazieren oder saßen in ihrem Zimmer am Fenster und unterhielten uns. Unsere Gespräche erinnerten an Warten auf Godot: Meine Großmutter fragte immer wieder das Gleiche, ich antwortete immer wieder das Gleiche — zuerst alle zehn Minuten, dann alle fünf und im Laufe der Monate alle zwei. So funktioniert das also, dachte ich, wenn man Alzheimer hat. Erstaunlicherweise war das ständige Wiederholen unserer Theaterszene für mich sehr entspannend.

 

Leider hielt unsere Ehe meinem Tatendrang nicht stand: Irgendwann fanden mein Mann und ich uns auf dem Standesamt wieder, auf dem wir geheiratet hatten, und reichten die Scheidung ein. Danach gingen wir zusammen frühstücken. Er war mir nicht böse, dass ich in den letzten Jahren kaum zuhause gewesen war. Auch er hatte seinen Teil zum Scheitern unserer Beziehung beigetragen. Ich wünschte bloß, ich hätte mehr davon mitbekommen.

 

Habe ich, aus heutiger Sicht, durch meine Hilfsbereitschaft den Sinn des Lebens gefunden? Natürlich nicht. Aber ich hatte, trotz all meiner persönlichen Probleme, eine richtig gute Zeit. So gesehen war es eben purer Egoismus.

 

Immo-Humana — Verein für Mütter in Wohnungsnot:  immo-humana.at